Typisch Social Entrepreneurship

Sozialunternehmertum in Deutschland unter der Lupe

Vom Klimaschutz bis zur Flüchtlingsintegration, von der Sicherung von Bildungsgerechtigkeit bis zum fairen Handel: Bereits seit Jahren gewinnt Social Entrepreneurship, also Sozialunternehmertum, national wie international zunehmend an Aufmerksamkeit und Bedeutung. Dabei agieren Social Entrepreneure an der Schnittstelle unterschiedlicher Denkansätze. Einerseits verfolgen sie gezielt die Bearbeitung gesellschaftlicher Anliegen. Andererseits bedienen sie sich unternehmerischen Handelns: sowohl im Markt als auch im gemeinnützigen und zivilgesellschaftlichen Bereich. Weitestgehend unerforscht waren bislang Besonderheiten der Arbeitsgestaltung und der Wirkung von Arbeit bei Social Entrepreneuren in Deutschland. In diese Forschungslücke stößt Rüdiger Hein mit seiner Dissertation, einer qualitativ-empirischen Studie, vor.

Social Entrepreneure erleben in Deutschland ein typisches Belastungsgefüge

Rüdiger Hein befragte fast zwei Jahre lang Sozialunternehmer im gesamten Bundesgebiet. Mit seiner differenzierten Analyse belegt er ein Belastungsgefüge, dem Social Entrepreneure in typischer Weise ausgesetzt sind. Dabei entwickelte er einen Neuentwurf zum Verständnis von Sozialunternehmertum und begründet motivationspsychologisch, weswegen das Soziale und das Unternehmerische nicht länger als zwei Dimensionen innerhalb eines Kontinuums aufzufassen sind. Denn Sozialunternehmer agieren nicht widerspruchsfrei. Sie zeigen positive wie negative Einstellungen und Verhaltensweisen sowohl im Sozialen als auch im Unternehmerischen auf.

Hierbei arbeitete Rüdiger Hein zwei Typologie-Ansätze heraus und zeigt Druckmechanismen auf, denen Social Entrepreneure ausgesetzt werden bzw. sich selbst aussetzen. So werden Sozialunternehmer von Wissenschaft und Verbänden in aller Regel nur dann anerkannt, wenn sie ihre Organisation hochskalieren, Innovation hervorbringen und ein soziales Problem lösen wollen, es also eliminieren. Dies sind absurde, willkürlich geschaffene Hürden mit fatalen Folgen, die der Arbeitspsychologe und Wirtschaftswissenschaftler neben weiteren Aspekten genau analysiert.

Beispielsweise werden Social Entrepreneure mit einer Nischen-Dienstleistung, die benachteiligten Menschen gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, von Unternehmensverbänden regelrecht ignoriert. Obwohl sich durch ihr sozialunternehmerisches Engagement pro Generation Millionen an Steuergelder einsparen lassen, werden sie von Förderprogrammen ausgegrenzt. In Studien werden sie oftmals nicht erfasst, nur weil ihr Unternehmen nicht auf Wachstum ausgerichtet ist. Dabei beugen sich wissenschaftliche Studien den Lobbyismus-Interessen der Startup-Szene und sie werden zu Unrecht als repräsentativ erklärt.

Wenn Sozialunternehmer in Deutschland nicht in der Gründungsphase sind, wenn sie nicht jung sind, keinen akademischen Hintergrund aufweisen und nicht in einem Ballungsgebiet leben, dann erweist sich das verbandspolitische Netzwerk mit seinen Fürsprechern aus der Wissenschaft in aller Regel als nicht sozial. Es grenzt die Vielfalt der Social Entrepreneure aus, die es aber in Deutschland gibt und noch viel mehr geben könnte. Sozialunternehmer aus strukturschwachen Regionen, Gründer im Rentenalter, das schulische Bildungswesen und Handwerker bleiben geradezu außen vor. Zudem fällt auf, wie stark sich Social Entrepreneure selbst ausbeuten und von Altersarmut betroffen sind.

Anregungen für die Praxis

Die Studie legt blinde Flecken der Unterstützungslandschaft offen und zeigt Reformbedarf auf. Beispielsweise kommt es neben den bereits erwähnten Segregationseffekten der Verbandsarbeit und der Förderstrukturen zum sozialunternehmerischen Scheitern, wenn gängige Beratungsangebote von Kammern und Verbänden falsche Auskünfte zur Gemeinnützigkeit geben, wenn unzureichend qualifizierte Finanzbeamte Fehlentscheidungen treffen oder wenn Wohlfahrtsverbände erfolgreich Druck auf die Politik ausüben und dafür sorgen, die limitierten Fördermittel nicht mit weiteren Sozialunternehmen teilen zu müssen. Dabei leitet Rüdiger Hein nicht nur das Erfordernis von Abbau bürokratischen Widerstands her, sondern beispielsweise arbeitet er darüber hinaus Anforderungen an professionelle Beratungsangebote heraus und thematisiert Minimalanforderungen an Anforderungsprofile, beispielsweise bezogen auf Curricula zur Grundausbildung zu „Social-Entrepreneurship-Beratern“. Ebenso wird deutlich, dass im schulischen Bildungswesen Rahmenstrukturen aufzubauen sind und wie dies fächerübergreifend und in allen Schultypen gelingen kann.

Die vielen Zitate der Befragten geben Einblick in deren spannenden Berufsalltag, und die umfangreichen Praxisanregungen sowie Bewältigungsstrategien geben Hilfestellungen für die sozialunternehmerische Arbeitswelt.

 


Das Fachbuch ist beim Springer-Verlag im Open Access frei abrufbar unter dem Titel „Typisch Social Entrepreneurship. Arbeitsgestaltung und Wirkung von Arbeit bei Sozialunternehmer*innen in Deutschland”; es ist ebenso als Taschenbuch im Buchhandel beziehbar.

 

Hein, Rüdiger: „Typisch Social Entrepreneurship“

Springer Fachmedien, Wiesbaden

 

Open-Access-Buch, www.springer.com

Taschenbuch, ISBN 978-3-658-35144-1

 



Der Autor: Prof. Dr. Rüdiger Hein

Dr. Rüdiger Hein hat eine Professur für soziale Arbeit, insbesondere Beratungspsychologie, an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management. Er lehrt Wirtschaftspsychologie und qualitative Forschungsmethoden. Im Rahmen seiner Vorstandstätigkeit beim Frankfurter Institut für nachhaltige Entwicklung (FINE) verantwortet er den wissenschaftlichen Forschungsbereich des Bildungsinstituts.

Kontakt: hein@fine-institut.de

FINE Frankfurter Institut für nachhaltige Entwicklung e. V.

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